Die Poesie der Augen

Heute lassen wir drei ganz Große zu Wort kommen, die humorvoll oder sachlich oder romantisch Ihren Blick auf die Augen zum Ausdruck bringen.

Ein graues Auge – ein schlaues Auge.
Auf schelmische Launen – deuten die Braunen.
Des Augen Bläue – bedeutet Treue.
Doch eines schwarzen Augs Gefunkel – ist stets, wie Gottes Auge, dunkel.

Friedrich von Bodenstedt (1819 – 1892)

Das Licht überliefert das Sichtbare dem Auge,
das Auge überliefert´s dem ganzen Menschen.
Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub,
aber das Auge vernimmt und spricht.
In ihm spiegelt sich von außen die Welt,
von innen der Mensch.
‚Die Totalität des Innern und Äußern wird
durch´s Auge vollendet.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)

Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen,
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter.

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das?
Vielleicht dein Lebensglück…
…vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast´s gefunden,
nur für Sekunden…

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das?
Kein Mensch dreht die Zeit zurück…
…vorbei, verweht, nie wieder.

Du musst auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber…

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Kurt Tucholsky (190 – 1935)